Aus Begegnung und Austausch entsteht ein neuer Blick auf die Welt. Die Therapeutin Stefanie Rauch-Frühmann und die Literaturvermittlerin Andrea Kromoser haben sich entschlossen, gemeinsam der Bedeutung von Bilderbüchern im Themenfeld Sterben, Tod und Trauer nachzugehen und Interessierte einzuladen, in ihren Seminaren an diesem Geschehen teilzuhaben. Noch vor dem ersten Seminar am 2. September 2022 haben sie uns in Form eines Dialogs ihre Überlegungen mitgeteilt. Ein weiteres Seminar ist am 21. April 2023 geplant.
ANDREA KROMOSER: Am 2. September 2022 findet erstmals unser gemeinsames Seminar »Die Kraft des Erzählens« in deiner Praxis statt. Wie bist du auf die wundervolle Idee gekommen, mich und unsere Teilnehmer:innen zu dir nach Lichtenberg einzuladen?
STEFANIE RAUCH-FRÜHMANN: Deine Arbeit begeistert mich schon lange Zeit. Mit dem Gedanken, mit dir zusammenzuarbeiten, habe ich immer wieder mal gespielt, bei genauerer Überlegung fehlte mir aber die konkrete Brücke zwischen unseren beiden Professionen. Und dann kam da dieser eine Moment: Ich hatte einen Klienten, dessen Partnerin eine Fehlgeburt erlitten hatte, er saß in meiner Praxis und ihm fehlten die Worte für seinen Verlust. Ich erinnerte mich in dieser Situation an eine Buchempfehlung von dir und las mit ihm gemeinsam das Bilderbuch »Joshua« von Inka Pabst und Mehrdad Zaeri (2020 bei Tulipan erschienen).
Die Bilderbuchlektüre war für meinen Klienten bedeutsam, er konnte mithilfe dieser Lektüreerfahrung Worte für seine Trauer finden, seine Gefühle zulassen. Später erzählte er mir, dass er danach zu seiner Ehefrau heimfuhr und sie zum ersten Mal seit ihrem Verlust in den Arm nehmen konnte.
Dieser Moment war einer jener ganz besonderen. In der systemischen Familientherapie nennen wir sie »Sparkling Moments« (ein Begriff, den Michael White geprägt hat). In solchen Situationen verschwindet die Dominanz eines Problems, innere Ressourcen werden aktiviert, Hoffnung auf positive Veränderung entsteht. Jene Momente bleiben oft ein Leben lang in Erinnerung, bei Psychotherapeut:innen und Klient:innen.
An diesem Tag wusste ich wieder aufs Neue, dass ich (Kinder)Literatur in meiner psychotherapeutischen Arbeit einsetzen, sie als Ressource nutzen und mehr über aktuelle Bilderbuchillustration sowie die Möglichkeiten in der Buchauswahl wissen möchte. Mit diesen Erfahrungen und Gedanken bin ich an dich herangetreten, plötzlich war es uns ein Leichtes, die Brücke von der Psychotherapie zur Kinderliteratur zu schlagen. Gemeinsam haben wir damit begonnen, Schritt für Schritt unser Seminarprojekt zu realisieren.
AK: Ich erinnere mich gut daran, wie ich dir »Joshua« zeigte, weil ich damals selbst lange über dieses Bilderbuch nachgedacht hatte. Denn ich war angetan von Mehrdad Zaeris Bildsprache, dieser Deutlichkeit in der Farbauswahl, mittels derer er der großen Bandbreite an Emotionen in Inka Pabsts Text Ausdruck verleiht. Wem sollte ich dieses Bilderbuchkunstwerk empfehlen? In welches Seminar würde ein Buch wie »Joshua« passen? Weil mir mutige Bilderbücher wie dieses, die ein vermeintlich schwer kommunizierbares Thema ansprechen und diesem mittels ihrer Form von Kunst Sprache verleihen, besonders am Herzen liegen, habe ich es damals an dich weitergegeben.
An ein anderes Bilderbuch-Gespräch mit dir erinnere ich mich auch noch sehr gut. Das ist schon etwas länger her, du hattest im Rahmen deiner Abschlussarbeit mit den Illustrationen sowie dem Text von Wolf Erlbruch gearbeitet. Auch darauf greifen wir jetzt wieder zurück, »Ente, Tod und Tulpe« (2007 bei Kunstmann erschienen) gehört natürlich mit dazu in meine Buchauswahl für »Die Kraft des Erzählens«.
Magst du ein paar Gedanken zu unserem Seminartitel formulieren?
SRF: Für mich benennt unser Titel den großen Wert von Worten, welche Kraft in ihnen steckt und auch, dass Worte bzw. Erzählungen eine positive Veränderung bewirken können. Das kann in vielen Lebenssituationen gelingen, auch in solchen, die so erschütternd sind wie Trauererlebnisse. In der Trauertherapie erlebe ich immer wieder, dass Trauernde keine Worte für ihren Verlust haben oder Angst davor, ihre Gedanken und Emotionen in Worte zu fassen. Gerade da kann Literatur Unglaubliches bewirken.
AK: Immer dann, wenn Menschen über Illustrationen und Texte ins Reden kommen, steht davor die Entscheidung, welches Buch sie dafür bzw. dabei aufschlagen. Als Germanistin frage ich mich: Zu welchen Büchern – und im Falle unseres Seminars, welchen Bilderbüchern – wollen wir greifen? Wo sind diese besonderen Gesprächsanlässe zu finden? Wie kann in beruflichen, ehrenamtlichen sowie privaten Kontexten eine individuell passende Buchauswahl getroffen werden?
Auch in meinen Fortbildungen mit Bibliothekar:innen beschäftigen mich diese Fragen intensiv. Denn Bibliotheken sind oftmals »Umschlagplätze« für kunstvolle, literarische Bilderbücher mit großen Themen. Auf den Bilderbuchbestand einer Bibliothek greifen einerseits Literatur vermittelnde Bibliothekar:innen als auch Kinder, Eltern und Großeltern zu. Die zentralen Fragen dahinter lauten also: Welche Bücher – beispielsweise zu den Themen Trauer und Sterben – wollen wir in die Regale stellen? Und vor allem: Welche wollen wir vorlesen? Ein Buch muss ja immer auch zu seiner Vorleserin, seinem Vorleser passen, gerade dann, wenn es starke Emotionen an- bzw. ausspricht.
Wir werden im Seminar ebenso über die persönliche Buchauswahl zu sprechen kommen wie über die jeweils individuellen Erfahrungen unserer Teilnehmer:innen mit Trauer. Wir möchten Menschen ansprechen, die andere beruflich, ehrenamtlich oder auch privat in Trennungs-, Verlust-, Trauer- oder Sterbeprozessen begleiten. Das kann beispielsweise in der Bibliotheksarbeit sein, wenn Eltern nach einem Bilderbuch fragen, das die Familie während des Sterbens oder nach dem Tod eines geliebten Menschen begleiten soll. Wir sehen unsere Zielgruppe auch in Bereichen wie der Hospizarbeit, dem Gestalten von Trauerreden bzw. -ritualen sowie in psychotherapeutischen oder pädagogischen Kontexten.
Warum ist aus deiner Sicht die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit bzw. jeweils ganz persönlichen Verlustbiografie so wichtig? Und was fasziniert dich persönlich an dieser Thematik?
SRF: Trauer betrifft alle. Jeder Mensch, der liebt, sich auf Beziehungen einlässt, sich ein Haustier anschafft, sich Träume erlaubt, riskiert zu trauern. Trauer ist auch ein Prozess, der uns ermöglicht, nach einem Verlust weiterzuleben. Aus diesem Grund macht es Sinn, sich damit auseinanderzusetzen, hinzusehen und nicht wegzusehen, auf Trauernde zuzugehen und nicht fortzulaufen. In unserem Seminar kann es gelingen, eigenen Verlusten Raum zu geben, sie zu würdigen, Beziehungen neu zu gestalten. Auch thematisieren wir, wie es möglich sein kann, Trauernden liebevoll zur Seite zu stehen, behutsame Worte im Umgang zu finden und das Gefühlsdurcheinander im Prozess der Trauer zu verstehen.
Trauer ist auch Teil meines Lebens, privat als auch beruflich. Ich habe Verluste erlebt, habe getrauert und vermisst. Die Momente der Trauer sind intensiv, so intensiv, dass man am liebsten flüchten und weglaufen möchte. Dahinter aber stehen eine unglaubliche Ehrlichkeit und Authentizität. Selten sind wir in unserem Leben so sehr bei uns wie während der Trauer. Denn wir haben dabei keine Kraft, uns hinter Normen und Ideen anderer bzw. der Gesellschaft zu verstecken. Wenn dem Gefühl, dem Erleben von Trauer, Raum gegeben wird, jemand liebevoll an unserer Seite steht und diesen Prozess begleitet, ist darin ein unglaublicher Schatz verborgen.
Trauer ist gestaltbar trotz ihrer Wucht. Diesen Prozess darf ich im Rahmen meiner Arbeit begleiten. Mein Schwerpunkt in der Systemischen Therapie ist der narrative Ansatz, der sich mit unseren Lebenserzählungen beschäftigt und der grundsätzlichen Frage danach, welche Geschichten wir unser Leben bestimmen lassen.
AK: Hier ist übrigens ein weiterer Pfeiler der Brücke zwischen unseren beiden Berufen. Mit dem Stichwort »Narration« haben wir im Laufe der Zusammenarbeit einen kleinen, aber schönen gemeinsamen Nenner gefunden. Darauf werden wir im Seminar bestimmt auch zu sprechen kommen. Ich danke dir so sehr dafür, dass du dich auf diese spannende Kombination aus Themen und Ideen eingelassen hast und einlässt!
SRF: Danke dir für diese bereichernde Zusammenarbeit! Ich freue mich auf das Kennenlernen unserer Teilnehmer:innen am ersten Seminartag im September und möchte hiermit herzlich zum zweiten Termin von »Die Kraft des Erzählens« im April 2023 einladen.
→ Dieser Text entstand im Sommer 2022 und wurde in der Print-Ausgabe von bn.bibliotheksnachrichten
3/2022 auf den Seiten 34 bis 36 publiziert.
Foto oben: Alicia Grillnberger, Projekt Bärnhof Fotografie
Fotos unten: Stefanie beim Seminarvorbereitungstreffen im Familienlektüre-Büro